Was ist eigentlich Linguistik? Von der Sprachmelodie zur Bedeutung

Von oliver.bott, 1. Mai 2025
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Griechisch: Aussage oder Frage?

"Du bist also Sprachwissenschaftler*in - Wie viele Sprachen sprichst Du denn?"  Das ist eine der typischen Reaktionen, die man bekommt, wenn man sich als Linguist*in outet.  Dabei ist das Beschreiben von möglichst vielen Sprachen in Form von Grammatiken oder Wörterbüchern nur ein winziger Teil dessen, womit sich die Linguistik als wissenschaftliche Disziplin beschäftigt.

Viele haben keine klare Vorstellung davon, was Linguistik eigentlich ist und was Linguist*innen eigentlich tun. Ich selbst als Sprachwissenschaftler finde es faszinierend, dass wir durch das Produzieren von Lauten und Gesten in der Lage sind, komplizierteste Gedanken und privateste Gefühle scheinbar mühelos miteinander zu teilen. In diesem Blogbeitrag will ich anhand eines Beispiels darüber schreiben, mit welcher methodischen Vielfalt die Linguistik dieses Wunder untersucht. Hier das Beispiel:

A fragt: Wieviele Schüler waren heute morgen da? und B antwortet: Alle waren nicht anwesend. 

Mit Bs Antwort können wir zwei sehr unterschiedliche Situationen verknüpfen. Wir haben es mit einer sprachlichen Mehrdeutigkeit zu tun. Hier die Situationen:

niemand da!jemand da

 Entscheidend für die Interpretation ist die Sprachmelodie, die sogenannte Prosodie, mit der wir die Äußerung artikulieren. Erhält insbesondere alle die Hauptbetonung, denken wir an das leere Klassenzimmer, haben wir aber einen steigend-fallenden Tonhöhenverlauf, der erst auf nicht wieder absinkt, dann stellen wir uns vor, dass zwar wahrscheinlich jemand anwesend war, aber eben nicht alle Schüler*innen. Die Linguistik untersucht nun alle Ebenen von Sprache und erklärt, wie der Zusammenhang von der erzeugten Schalldruckwelle bis hin zur Bedeutungsinterpretation und kommunikativem Gebrauch funktioniert. Hier kommt auch die vergleichende Betrachtung unterschiedlicher Sprachen ins Spiel, zum Beispiel solcher wie dem Griechischen, einer Sprache, in der allein mittels Prosodie zwischen der Aussage "Melanie wird wütend" und der Frage "wird Melanie wütend?" unterschieden wird. Die unterschiedliche Prosodie der griechischen Äußerung η Мέλανη θυμώνει ist oben im Grundfrequenzverlauf gezeigt (aus Themistocleous, 2025). 

Gehirnaktivität im Zusammanhang mit linguistischen Aspekten von Prosodie

Wir haben damit aber nur einen Teil der linguistischen Disziplinen angesprochen. In der Psycho- und Neurolinguistik werden die kognitiven und neuronalen Grundlagen von Sprachproduktion und Sprachverstehen untersucht. So zeigt Themistocleous (2025) in einer kürzlich veröffentlichten Metastudie, dass insbesondere die linke Gehirnhälfte mit der Verarbeitung von linguistischen Aspekten der Prosodie befasst ist (s. Abbildung links).  In der Soziolinguistik hingegen rücken die sozialen und gesellschaftlichen Dimensionen in den Vordergrund. Welche identitätsstiftenden Elemente stecken in der spezifischen Sprachmelodie, die wir in unseren Peergroups verwenden? Ein weiterer zentraler Bereich in der Linguistik ist die Modellierung von Sprache und Sprecher*innen in der Computerlinguistik. Der Boom von großen Sprachmodellen wie ChatGPT und Co. beweist direkt deren Relevanz. Lange Zeit klang synthetische Sprache künstlich, aber mittlerweile sind wir von täuschend echter synthetischer Sprache umgeben. In der Klinischen Linguistik schließlich beschäftigen sich Wissenschaftler*innen mit Sprachläsionen und deren Therapien. Gestörte Prosodie ist ein wesentliches Kennzeichen von einigen Formen von pathologischen Sprachbeeinträchtigungen. Neben diesen Disziplinen gibt es noch viele weitere.

Hier in der Sprachschmiede sind all diese linguistischen Disziplinen und Perspektiven vertreten. Schau doch in eines unseres Projekte, um selbst zu erfahren, wie vielfältig linguistische Forschung ist.